Abbreviationen


05/2009

Deutscher wie fremdländischer Öffentlicher Personennahverkehr (im Folgenden ÖPNV) vermag ja bekanntermaßen ganze Kolumnensammlungen zu füllen. Wie schon mit dem Aufenthalt in der Bibliothek möchte ich mich auch hier einer Tradition anschließen.
Jüngst habe ich mir erzählen lassen, dass man, um Nahverkehrskontrolleur in NRW zu werden, eine Art Fahrkartenbibel (hier lediglich Gemeinsamkeiten dessen Umfang betreffend) auswendig lernen muss, um zu wissen welcher Schüler mit welcher Fahrkarte aus welchem Tarifgebiet an welchem Tag denn jetzt sein Fahrrad und welcher Abonnent am Wochenende seine Familie kostenlos mitnehmen darf. Das ist aber nicht mein Problem denn weder bin ich Kontrolletti, noch wohne ich in NRW.
Ich wohne nämlich in Baden-Württemberg. Was es kein Stück besser macht. Denn hier herrscht der VRN = Verkehrsverbund Rhein-Neckar. Dieser erstreckt sich von Wissemburg in Frankreich bis nach Würzburg in Bayern. Nach Norden und Süden ist dessen Expansion eher weniger relevant. Dieses gesamte Gebiet wird z.B. durch das hiesige Semesterticket abgedeckt, das sich seit geraumer Zeit in meinem Besitz befindet.
Hier in Heidelberg haben sich diese spitzfindigen Schelme offenbar gedacht: „Machen wir uns doch mal einen Spaß und vertauschen die Buchstaben“. Gesagt, getan. Als ich eines Tages also am Heidelberger Bahnhof nach einem VRN-Plan fragte, schaute mich die Dame ein wenig verwirrt an und fragte dann, ob ich denn den rnv-Netzplan meinte. Will die mich verarschen? Nein tatsächlich: um von meiner Haustür bis in die Stadt zu gelangen, muss ich als Erstes einen Bus nehmen, der dem BRN = Busverkehr Rhein-Neckar angehört, ein DB-Unternehmen, in dem man daher als Bahncard100-Besitzer umsonst fahren kann. Dann muss ich in eine Bahn des Heidelberger rnv steigen (der Bahncard100-Besitzer kauft sich JETZT eine Fahrkarte) und das Ganze befindet sich nun im Netz des VRN…
Alle Klarheiten beseitigt? Gut. Der Bus fährt so ab, dass die Bahn genau erreicht wird. Klappt in ungefähr 50% der Fälle. Die ersten 3 Haltestellen der Bahn liegen an einer einspurigen Strecke. Das heißt: die Bahn fährt ab ob der Bus da ist oder nicht, ob es hagelt oder stürmt. Täte sie das nicht, so könnte die vermutlich schon wartende Bahn aus der Gegenrichtung nicht pünktlich einfahren, verursachte eine Verspätung der darauffolgenden und so weiter und so fort.
Bus hält also an, alle Leute raus: Bahn fährt los. Großes Geschrei. In der nächsten Bahn, die schon in den Bahnhof eingefahren war, nehme ich auf einem der Vierersitze Platz und warte. Und ahne Schlimmes: neben mir setzt sich eine Dame mit – wenig gekämmtem Haar, zwei vollen Plastiktüten und einem scheinbar unstillbaren Mitteilungsbedürfnis. Der Rest ist vorprogrammiert. Es dauert geschlagene 9 Minuten, bis ich sie in mein Buch starrend beleidigtgeschwiegen habe und sie wieder aussteigt. Später erzählen mir meine „Mitfahrer“, dass sie sich von draußen hinter mich gestellt und durch die Scheibe mein Buch mitzulesen versucht hat. Nun denn, Erleichterung nähert sich mir an als die Bahn losfährt, bleibt aber dann vorsichtshalber noch eine Weile weg als sich an der nächsten Haltestelle eine Familie mit 3 Kindern um mich herum drapiert. Nach 3 Minuten permanentem Schienbein-Treting durch weibliche 4-Jährige, mussten – so dachte ich – doch auch die Eltern meine mit Mordlust gefüllten Blicke bemerkt haben. Mein iPod geht nicht lauter zu drehen. Ich verstehe den Sänger nicht mehr, denn weibliche Minderjährige schlägt sich schreiend mit engem Verwandten (vermutlich Altersgenosse) um Süßigkeit. 10 Minuten lang…am Stück.
Die Eltern – weiterhin unwillig etwas zu unternehmen außer sich über den morgigen Lebensmitteleinkauf auszutauschen – klemmen sich nach gefühlten 3 Stunden Malträtieren ihre Terroristen unter den Arm und steigen aus. Ich bereite mich derweil mental auf die nächste Katastrophe vor, die natürlich auch nicht lange auf sich warten lässt: hab ich etwas überhört wegen meiner Lautsprecher im Ohr oder hat sich mein Straßenbahnfahrer verfahren?? Die fragenden Gesichter meiner Mitfahrgäste lassen vermuten, dass auch sie informationslos geblieben sind und durchaus gern wüssten, warum die Bahn JETZT, HIER abbiegt.
Es folgt: keine Erklärung. Nur: Alle aussteigen! Alle raus – da steht ein Bus (ein BUS! Und zwar einer ohne Zieharmonika!) Alle rein. Ziemlich eng da.
Nicht, dass mein Weg in die Stadt mit der Bahnfahrt enden würde, nicht doch. Für gewöhnlich – laut Fahrplan – schließt sich an die Bahnankunft in der Innenstadt eine direkte Busverbindung in die Altstadt an. Dieser besagte Bus verlässt natürlich unmittelbar seine Haltestelle als wir uns dieser nähern. Mehr Geschrei. Aber, weil die Heidelberger ja so gewieft sind, steht auch hier schon ein Ersatzbus bereit – an der falschen Haltestelle, ohne Aufschrift, aber – who cares?! DER bringt mich nun mit rund 20 Minuten Verspätung an mein Ziel.
Natürlich brauch ich mich jetzt auch nicht mehr beeilen, denn ob ich 20 oder 25 Minuten zu spät bin schert nun wirklich niemanden. Also gehe ich gemäßigten Schrittes auf den Eingang zu und erkenne mit jedem Schritt deutlicher die Zeilenauf dem Zettel an der Eingangstür: „Die Veranstaltung von Frau Hungensiel (9h-11h Hörsaal) fällt heute wegen Krankheit aus. Das Sekretariat“


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